Die Geschichte von MAL-HEURE und Studio Otto Nagel
MAL-HEURE
Studio Otto Nagel
Mal- und Zeichenzirkel in der DDR
Nach der „1. Bitterfelder Konferenz“ entstanden in den 1960er Jahren in allen größeren Betrieben der DDR, in Kleinstädten und Stadtteilen größerer Städte Laien-Kulturgruppen. In den darauffolgenden Jahren bildeten sich republikweit neben Literatur-, Theater-, Musik-, Tanz-, Textil- u.a. auch Mal- und Zeichenzirkel.
Man stelle sich das heute vor: Es gab eine kostenfreie qualifizierte und von Berufskünstlern angeleitete kreative Betätigung für alle!
Zirkelarbeit im Institut für Nachrichtentechnik (INT) Berlin
Initiator und treibende Kraft für den Mal- und Zeichen-Zirkel (MZZ) im Institut für Nachrichtentechnik (INT) in Berlin-Schöneweide war 1978 Adolf Kieninger, ein alter Gewerkschafter, Mechaniker und leidenschaftlicher Maler und Zeichner, gebürtig aus dem Ruhrgebiet.
300 Mark für Ölfarben, Leinwände und Keilrahmen stellte die Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL) des INT zur Verfügung. Der Künstler Michael Ihrke, der ein Studium der Malerei an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee absolviert hatte, leitete den Zirkel an. Über viele Jahre- bis weit nach der Wende.
Einmal wöchentlich trafen sich die Zirkelmitglieder nach Arbeitsschluss zum Malen und Zeichnen im Speisesaal des Betriebes. Angehörige verschiedener Berufsgruppen- Mechaniker, Ingenieure, promovierte Chemiker, Sachbearbeiter- also Menschen mit ganz unterschiedlicher kultureller Vorbildung- schwangen Pinsel und Stift. Manche das erste Mal in ihrem Leben.
Malen und Zeichnen im MZZ
In den gemeinsam beschlossenen Jahresprogrammen lag der Schwerpunkt auf den allgemeinen Grundlagen des Malens und Zeichnens: Bildaufbau, Komposition, Farblehre, Anatomie, Materialkunde, Naturstudium. Die Laienkünstler*innen lernten verschiedene Druckverfahren, Zeichentechniken, Ölmalerei, eigneten sich Wissen über Perspektive, goldenen Schnitt und Farbtheorie an, übten sich in Akt- und Portrait- Studien.
Ein weiterer Schwerpunkt war das Malen und Zeichnen in der Natur- im Umland (das nach Berliner Definition bis zur Ostsee reicht) und in Industrielandschaften- vor Ort zum Beispiel in Schöneweide oder im Braunkohletagebaugebiet der Lausitz.
Ausstellungen und Präsentationen
Die Ergebnisse aus den Exkursionen sowie die Arbeiten aus der wöchentlichen Zirkeltätigkeit präsentierte der MZZ in selbst organisierten Ausstellungen- auch DDR-weit.
Er nahm an Kreis- und Bezirksausstellungen sowie an den Arbeiterfestspielen teil. In den Jahren 1982 und 1987 verlieh ihm der Stadtbezirk Berlin-Köpenick die Auszeichnung „Hervorragendes Volkskunstkollektiv der DDR“.
Es gab Preise für die Gruppe wie für einzelne Mitglieder.
1988 erreichte ein Bild aus dem Braunkohletagebau sogar die Ruhrfestspiele in Recklinghausen.
Über Jahre beteiligte sich der Mal- und Zeichenzirkel mit Werkschauen und Mitmachaktionen am Volksfest Köpenicker Sommer, einem der beliebtesten Straßenfeste
Berlins. Gemeinsam mit jungen und alten Besuchern entstanden 1989 drei großformatige Collage-Tafeln; die Stadtlandschaft rund um das Rathaus diente als Motiv.
Aktivitäten
Zum Zirkelleben gehörten die Familienangehörigen, Freunde, Bekannte… Man verreiste zusammen, betreute abwechselnd die damals noch kleinen Kinder, besuchte gemeinsam Ausstellungen alter Meister, aktueller nationaler und internationaler Kunst, die Präsentationen anderer Volkskunstschaffender.
Ebenso gehörten Feiern zum Zirkelleben. Langjährige Freundschaften entstanden, die über die Freude am Malen und Zeichnen hinausgingen. Diese Bindungen halfen später dem Zirkel über die Wende…
Zeiten des Umbruchs 1989
Der Herbst ´89 war eine aufregende Zeit! Was würde werden? Viele hatten die Hoffnung, dass im Zeichen von „Glasnost“ und „Perestroika“ das starre SED-Regime reformiert werden könnte und eine bessere DDR möglich sei.
An der großen Demonstration am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz beteiligte sich der Zirkel mit dem Transparent: „Egon, wann beginnt die Wende – oder sind wir schon am Ende?“
Ende des Mal- und Zeichenzirkels 1990
Im Auftrag der Regierung der BRD löste die Treuhand die DDR- Wirtschaft auf. In derWilhelminenhofstraße in Schöneweide, dem einst größten Industriegebiet Berlins mit über 30.000 Beschäftigten, gingen die Lichter aus. Großbetriebe wie die „Metallhütten und Halbzeugwerke“, das „Batteriewerk (BAE/Belfa) “, „Transformatorenwerk“, „Kabelwerk Oberspree“, „Werk für Fernsehelektronik“ und „Institut für Nachrichtentechnik“ wurden bestenfalls verkauft, meist jedoch abgewickelt.
Es drohte damit auch das Ende des betrieblichen Mal- und Zeichenzirkels des INT…
Jedoch hielt die Begeisterung für das gemeinsame künstlerisch Arbeiten und das familiäre Miteinander die Gruppe zusammen.
Der Kunstverein MAL- HEURE e.V.
Am 22.06.1990 gründeten die Mitglieder des abgewickelten Mal- und Zeichenzirkels den “Kunstverein MAL-HEURE e.V.“.
Der Name „MAL-HEURE“ war schnell gefunden – doppeldeutig, wie als „Mal-Stunde“ und auch als „Pech“ übersetzbar (eben auch das passiert beim Malen mitunter). Mit Vereinsstatus und Mitgliedsbeiträgen sicherte sich der alte MZZ sein Weiterbestehen. Alle vier Vorstandsmitglieder von damals sind noch heute aktiv:
Birgit Scheer, Karin Schulz, Dieter Kunze und Ulrich Pinkert.
Immer wieder Raumprobleme, Ortswechsel-, trotz allem traf man sich wie gewohnt wöchentlich zum gemeinsamen künstlerischen Arbeiten und Austausch, organisierte Ausstellungen, Feste, Exkursionen… Darüber ließen sich sogar neue, künstlerisch interessierte und engagierte Mitglieder gewinnen.
Die Fusion des „Studio Otto Nagel“ mit dem Kunstverein „MAL-HEURE“
„Das Studio „Otto Nagel“ gehört bald zum Verein „Mal-Heure“ und kann weiterbestehen – Traditionskunst gerettet“ (Berliner Zeitung, 1.4.2009)
2009 drohte „MAL-HEURE“ das finanzielle Aus wegen einer drastischen Mieterhöhung.
Zeitgleich kam das „Studio Otto Nagel“ in Raumnot, weil es nicht in den angestammten Bezirksamt-Räumen bleiben durfte. Eine Win-win-Lösung wie aus dem Lehrbuch bot sich an: Die Fusion zum „Kunstverein MAL- HEURE / Studio Otto Nagel e.V.“
2009 bezog das „Studio Otto Nagel“ bei MAL-HEURE seine neue Heimat. Mit nunmehr über 70 Vereinsmitgliedern war die Miete zu stemmen. Und mehr: Die ART-Verwandtschaft bereicherte die Gruppen, gemeinsame Aktivitäten und Ausstellungen folgten und werden folgen…
Studio für bildnerisches Volksschaffen
„Studio Otto Nagel“
Der Vorläufer des „Studios Otto Nagel“ existierte bereits seit 1960, die Gründung erfolgte im Klubhaus der Bauarbeiter. Auf Initiative des ersten Zirkelleiters Karl-Heinz Klingbeil entstand im Dezember 1963 das Studio für bildnerisches Volksschaffen.
Als Domizil diente eine alte Eckkneipe mit umfangreichen Nebenräumen in der Grünberger Str. / Ecke Simon-Dach-Str.
Am 6.Oktober 1965 erhielt das Malstudio im Beisein des Berliner Malers Otto Nagel den Namen „Studio Otto Nagel“.
Finanziert wurde es durch die Abteilung Kultur des Rates des Stadtbezirkes Berlin – Friedrichshain.
Im Laufe der Zeit entstanden verschiedenste künstlerisch tätige Gruppen:
• drei verschiedene Kindermal- und Zeichenzirkel
• Grundlagenzirkel Malen und Zeichnen I und II
• Stammgruppen I und II für Fortgeschrittene (Gruppe Rot)
• Textilzirkel
• Fördergruppe Bildwirker
• Grundlagengruppe Keramik
• Stammgruppe Keramik
• Hoch- und Tiefdruckzirkel
Das Studio verfügte über eine eigene Tief- und Hochdruckpresse.
Pro Woche wurden 10 verschiedene Gruppen von 8 Gruppenleitern unterrichtet, die auf Honorarbasis vergütet wurden. 1976 übernahm Volkmar Götze die Leitung des Studios.
Außer dem hauptamtlichen Studioleiter gab es drei weitere Stellen für Werbetätigkeit, Ausstellungsgestaltung und eine Reinigungs- bzw. Hilfskraft.
In den Räumen des Studios existierte ein eigener Ausstellungsbereich, die „Kleine Volkskunstgalerie“. Hier wurden im gesamten Bestehen der Galerie mehr als 250 Ausstellungen präsentiert. Gezeigt wurden Arbeiten der eigenen Zirkel und von Malgruppen anderer Länder.
Außerdem wurden einige Ausstellungen in großen Berliner Kinos wie Kosmos, International und Babylon gestaltet.
Auf dem großen Berliner Weihnachtsmarkt hatte das „Studio Otto Nagel“ einen eigenen Verkaufsstand, wo Arbeiten der künstlerischen Gruppen verkauft wurden.
Außerdem wurden jährlich Werke durch den Stadtbezirk angekauft, um Krankenhäuser, Arztpraxen, Altenheime und Jugendclubs auszugestalten.
Bei Presse- und Straßenfesten war das Studio Otto Nagel stets vertreten, so auch bei den X. Weltfestspielen der Jugend 1973 in Berlin. Dort hatte „Otto Nagel“ sogar ein eigenes Straßencafé.
Außer der Betätigung im Atelier fanden gemeinsame Museumsbesuche, Kunstgespräche und Zeichenexkursionen statt sowie eine jährliche Malreise ins In- und Ausland. Im Sommer gab es des Öfteren für 6 Wochen ein Zeltlager in der Nähe von Berlin. Hier trafen sich die Mitglieder zu unterschiedlichsten Aktivitäten, wobei das Malen und Zeichnen immer im Vordergrund stand.
Nach der politischen Wende in der DDR fielen die Honorargelder weg, damit mussten viele der künstlerischen Gruppen aufgegeben werden. Die verbleibenden Mal- und Zeichenzirkel wurden von Volkmar Götze weitergeführt. Ihm wurde eine Weiterbeschäftigung im Kulturamt bis zu seinem Ruhestand garantiert.
Bis zum Jahr 1996 konnte das Studio in verkleinerter Form in den angestammten Räumen existieren. Nachdem die monatliche Miete der Räume auf 6000,-DM gestiegen war, entschied sich der Stadtbezirk Friedrichshain, der noch immer der Träger war, nach günstigeren Räumen Ausschau zu halten.
In der Simplonstraße 27 unweit der alten Adresse wurden neue kleinere Räume gefunden. Hier war der Stadtbezirk Friedrichshain ebenfalls der Träger und ein Mietvertrag über 10 Jahre wurde bewilligt.
Die neuen Räume befanden sich in einem Neubau und waren wieder in einem Ladengeschäft gelegen.
Als im Jahr 2006 der zehnjährige Mietvertrag abgelaufen war, musste erneut nach einem neuen Domizil gesucht werden. Nach längerem Suchen wurden dem Studio drei Räume im Bezirksamt in Berlin Friedrichshain in der Petersburger Str. zur Verfügung gestellt.
Im Mai 2009 ging Volkmar Götze in den Ruhestand. Für eine Weiterbeschäftigung oder für einen Nachfolger waren keine finanziellen Mittel mehr vorhanden.
Dem „Studio Otto Nagel“ wurde geraten, sich nach einer freien Trägerschaft umzuschauen.
Der Kunstverein “Mal-Heure“, ebenfalls im Stadtbezirk Friedrichshain ansässig, hatte zeitgleich ähnliche Probleme. Hier waren es steigende Mieten. Eine Fusion beider Gruppen schien logisch und war der Startpunkt für einen gemeinsamen Verein, den „KUNSTVEREIN MAL-HEURE / STUDIO OTTO-NAGEL e.V.
Volkmar Götze leitet die Gruppe „Otto Nagel“ noch immer, nun allerdings in ehrenamtlicher Tätigkeit.
Text: Thomas Opitz, Volkmar Götze
Presseveröffentlichungen zum „Studio Otto Nagel“:
• „Atelier-Galerie im Grünen“, BZ am Abend, 01.08.1972
• „Kiebitze mit der Zeichenfeder beim Volkssport“, BZ am Abend“, 07.07.1975
• „Studio „Otto Nagel“ Berlin-Friedrichshain“, Bildnerisches Volksschaffen, 6/1976
• „Bilder im Klub“, NBI, Nr.42 1977
• „Die Entwicklung des bildnerischen Volksschaffens in Berlin von 1966 bis 1977 an ausgewählten Zirkelbeispielen (II)“, Bildnerisches Volksschaffen, 3/1979
• „Ausstellungen in Klubs und Kinos“, Berliner Zeitung, 02.03.1982
• „Der Weihnachtsmann kommt pünktlich um 14 Uhr“, BZ am Abend, 10.12.1982
• „Weihnachtsmarkt auf 55000 Quadratmetern“, BZ am Abend, 22.11.1982
• „Für Minuten Modell gesessen“, BZ am Abend, Dez.1982
• „Kunst und Politik“, Der Morgen,15.08.1984
• „Und von der FEFA kam sogar Goyas Druckpresse“, Berliner Zeitung, 10.01.1985
• „Berlin – von Volkmar Götze“, Bildnerisches Volksschaffen, 3/1987
• „Freizeitkünstler stellen in Rathausgalerie aus“, Neue Zeit, 13.01.1992
• „Freizeitkünstler stellen Malerei und Grafik aus“; Wochenblatt, 16.01.1992
• „Laienkunst vom Feinsten“, Abendblatt, 19.02.1992
• „Phantastische Welt in der Bücherei“, Berliner Zeitung, 12.04.1994
• „fantasy und science-fiction in Öl“, Berliner Morgenpost, 18.04.1994
• „Studio Otto Nagel zeigte in 30 Jahren 250 Ausstellungen“, Schauplatz Friedrichshain, Nr.11 1995“
• „Bürgernahes Zentrum für Bildende Kunst – Studio Otto Nagel eröffnet neue Räume“, Abendblatt, 28.02.1996
• „Studio für Freizeitkünstler wechselte sein Domizil“, Berliner Morgenpost, 02.03.1996
• „Studio Otto Nagel – Malen ist doch nicht nur eine Sache für Frauen“, Berliner Abendblatt, 13.03.1996
• „Umgezogen: Studio Otto Nagel“, Schauplatz Friedrichshain, Nr.3-1996
• „Otto-Nagel-Studio jetzt in der Simplonstraße“, Wochenblatt- Hallo Berlin, Nr.11/1996
• „Künstlerstudio „Otto Nagel“ bangt um seine Zukunft“, Berliner Morgenpost, 05.03.2009
• „Kunst statt Kaffeeklatsch“, Berliner Wochenblatt, 18.03.2009
• „Traditionskunst gerettet“, Berliner Zeitung, 01.04.2009
• „Otto Nagel bleibt bestehen“, Berliner Woche, 08.04.2009
• „Der letzte Mohikaner, vom langen Abschied der Volkskunst“, Friedrichshainer Chronik, Mai 2009
• „Fantasie und Wirklichkeit“, jot w.d., 5/2012A